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AutorenbildMartin Schenk

Widerstandsfähig 2024

Neujahrswünsche für die Jugendhilfe

Ein Beitrag von Martin Schenk, Diakonie Österreich & Armutskonferenz


Der Bursche hat eine klassische Heimkarriere durchlaufen. Schon als kleines Kind war Raphael[1] mit einer massiven Überbelastung seines familiären Systems konfrontiert. Er reagierte mit „Auszucken“. Seine Familie bleibt instabil und kann das Kind nicht adäquat versorgen. Die „Zerrissenheit“, die Raphael spürt, belastet seine Entwicklung sehr stark. Insbesondere in der Schule verstärken sich Frustration, Versagensängste, Wut und Aggression. In der Wohngemeinschaft, in die er als Jugendlicher kommt, gelingt es, Vertrauen aufzubauen, Sicherheit und Stabilität zu geben. „Ich kann doch etwas“, ist Raphaels erstmalige Erfahrung. Dann kommt der Sprung zur Lehre. Beim Betrieb mögen sie den Burschen auch. Sie finden sogar er ist super. Durch die Verzögerung und vielen Schleifen in seiner Entwicklung wird Raphael nun im ersten Lehrjahr 18 Jahre alt. Das heißt: Kurz vor der ersten Berufsschule muss er am Jahresende gesetzlich aus der WG hinaus und ohne Nachbetreuung seinen Weg alleine bestreiten. Seine Familie ist nicht in der Lage Unterstützung zu leisten.


Was passiert bei Raphael? So ganz allein beginnt die Versagensangst vor der Berufsschule zu knabbern. Das Schulthema ist wieder voll da. „Das schaffe ich sowieso nicht, da kann ich ja gleich aufhören und und und ….“. Die alte Angst vorm Scheitern schlägt wieder voll durch. Doch mit nur wenig Begleitung aus der WG heraus, gemeinsam mit den ihm vertrauten Personen, könnte er es schaffen. Und er könnte einer von denen werden, die am Ende der Berufsschule sogar einen sehr guten Erfolg vorweisen können. Ohne diese Unterstützung aber wird er genau das machen, was er über lange Zeit vorher eintrainiert hat: es vor dem (befürchteten) Scheitern selbst zerstören. Und die Ausbildung schmeißen.


Zum Schmeißen ist aber eigentlich das jetzige Gesetz. Die Diskriminierung der sogenannten „Care Leaver“[2] ist kein österreichspezifisches Problem, doch in anderen Ländern hat man bereits reagiert: In Norwegen geht die staatliche Unterstützung bis zum Alter von 24 Jahren. In Deutschland können die Maßnahmen der Kinder- und Jugendhilfe bis 26 verlängert werden, bis 21 kann man neu in eine Unterstützung hineinkommen. In Großbritannien muss zwei Jahre nach Beendigung der Maßnahme die / der Jugendliche aktiv kontaktiert werden, um zu sehen, ob Unterstützungsbedarf besteht. Die letzte Regierung hat dieses Problem durch die „Verländerung“[3] der Jugendhilfe noch weiter verschärft.


Für eine gute Jugendhilfe sind gleiche Standards vom Neusiedler- bis zum Bodensee Voraussetzung.


In Österreich aber macht es einen Unterschied, wo ein:e Jugendliche:r lebt. Die Hilfen unterscheiden sich von Bundesland zu Bundesland. Seit die Zuständigkeit allein bei den Bundesländern liegt, kann sich die Kinder- & Jugendhilfe bundesweit kaum noch weiterentwickeln. Dieser föderale Dschungel wurde mit einer speziellen Vereinbarung geschaffen, die den Status des Bundes-Kinder- und Jugendhilfegesetzes einfriert. Fortschritte sind nur möglich, wenn alle neun Bundesländer gemeinsam Verbesserungen zustimmen. Für einen solchen Prozess gibt es aber keinerlei festgelegte Strukturen. Es regiert der kleinste und schlechteste gemeinsame Nenner. Auf gute Hilfe müssen benachteiligte Jugendliche ein Recht haben. Und das ist nicht ins Belieben der Bundesländer zu stellen.


Jugendliche sind massiv unter Druck. Corona, Krieg, Teuerung, Klimawandel, Armut – eine Krise jagt die andere und nicht alle können das gut bewältigen. Manche sind verletzlicher und haben weniger Reserven. Angstsymptome, Schlafstörungen und depressive Verstimmungen sind auf dem Höchststand. Beengtes Wohnen und geringes Einkommen zu Hause verschärfen die Situation. Junge Leute brauchen Hilfe, wenn sie mit ihrem Alltag und sich selbst nicht mehr zu Recht kommen.


Im Gesundheitssystem und in der Prävention hierzulande gibt es große Herausforderungen und Lücken [3]. Kinder mit Entwicklungsbelastungen muss ein kostenfreies, jederzeit zugängliches und bedarfsdeckendes Angebot an diagnostisch-therapeutischen Maßnahmen zur Verfügung stehen. Das beginnt bei der fachärztlichen wie therapeutischen Versorgung und den aufsuchenden Diensten, geht über spezialisierte Ambulatorien bis hin zur Kinder-Rehabilitation. In der Psychotherapie und psychologischen Behandlung gibt es weiter große Lücken und lange Wartelisten – die müssen wir schließen. Die Versorgungslücke liegt bei der Leistbarkeit, aber auch bei den langen Wartezeiten und der Mangelversorgung in ländlichen Regionen. Es geht also um kassenfinanzierte Psychotherapie, um bessere regionale Versorgung und um diversere Formen der Angebote: Primärversorgungszentren, regionale Therapiestellen oder mobile Teams.


All das muss mit sozialer Infrastruktur kombiniert werden. In Dänemark wurden Formen von „Präventionsketten“ entwickelt. Sie sollen in schwierigen Situationen stärken. Man setzt bei den Entwicklungsherausforderungen des Kindes an und baut die Unterstützungsmaßnahmen begleitend auf. Bei diesen verbundenen Präventionsketten greifen die einzelnen Ketten-Glieder verlässlich ineinander, damit die Kette nicht reißen kann. Der Begriff ist vielleicht ein wenig missverständlich. Es geht im Kern darum, Unterstützungsnetze zu mobilisieren, die sozialstaatlich, institutionell, in der Gemeinde und der Community zu finden sind. Die sozialen Dienstleistungen sind hier besonders bedeutsam. Statt ständiger Abgrenzungsversuche zwischen Jugend- und Wohnungslosenhilfe, zwischen Psychiatrie und Sozialarbeit, zwischen Cure and Care braucht es integrierte Systeme. Präventionsketten beginnen mit den Frühen Hilfen; sie arbeiten multiprofessionell, sozialräumlich und integriert.


Resilienz heißt, widerstandsfähig sein. Das können wir brauchen. Jetzt in den vielen Krisen ist dieses Wörtchen in aller Munde. Aber in einer oft schädlichen Weise. „Mach dich resilient! Sei resilient! Bemüh dich, resilient zu sein!“ Das ist möglicherweise gut gemeint, aber ein Missverständnis. Resilienz ist keine Dimension individueller Leistungsfähigkeit – das belastet die Belasteten noch mehr. Das ist wie jemanden, den die Depression quält, zu sagen „Reiß dich zusammen!“. Wir wissen: das drückt die Person noch tiefer in den Strudel der Verzweiflung. Jugendliche wie Raphael müssen viel zu oft Situationen der Einsamkeit, der Ohnmacht und der Beschämung erleben.


Einer der ersten, der sich mit Resilienz beschäftigte, Aaron Antonovsky [1], betonte, dass Resilienz stets mit gesellschaftlichen Bedingungen verbunden ist. Er nannte sein Konzept „Kohärenzsinn“, eine Fähigkeit mit der Welt in Beziehung zu sein. Keine Handlungsspielräume zu haben, weniger Anerkennung zu bekommen und von Dingen ausgeschlossen zu sein, über die andere sehr wohl verfügen, ist Ausdruck einer sozialen Krise, in der auf Dauer unsere Selbstwirksamkeit und unser Selbstvertrauen leidet. Handlungsspielräume zu erhöhen, hat mit dem Gefühl der Bewältigbarkeit einer Lebenssituation, dem „sense of manageability“, zu tun – und stärkt die Widerstandskräfte. So geht es bei Resilienz immer um die Erhöhung der „Verwirklichungschancen“ Benachteiligter, wie es die Philosophin Martha Nussbaum [2] und der Ökonom Amartya Sen [4] formulieren. Kinder, die sich sicher fühlen in ihrer Beziehung zu Eltern oder einer Bezugsperson, sind neugieriger auf die Welt, lernen leichter und fürchten Herausforderungen weniger. Das sagt uns die Entwicklungspsychologie. Zu glauben, ein Kind baut Resilienz auf, wenn man sagt, „Sei stark! Sei widerstandsfähig!“, ist mehr als lächerlich. Dieses magische Denken aber durchzieht eine ganze Reihe von Texten zur Resilienz, die in den Krisen jetzt erscheinen. Resilienz braucht eben immer auch andere. „Aus sich selbst heraus“ funktioniert das nicht, das ist ein Beziehungsgeschehen. Und auch eine Frage der Institutionen. Ist die Schule stärkend oder beschämend für Kinder, wirkt das Arbeitsmarktservice stärkend oder schwächend? Wer Leute am Sozialamt bloßstellt, wer Arbeitslosenleistungen kürzt, wer mit erobernder Fürsorge Hilfesuchende entmündigt, der vergiftet diese Ressource. Resilienz als einsames individuelles Leistungsprogramm misszuverstehen, belastet noch mehr und schadet. Wer Resilienz will, muss Jugendliche entlasten und stärken.


Auch in einer Familie enden Sorgen und Unterstützung nicht einfach mit dem achtzehnten Geburtstag. Diese Begleitung wirkt stark präventiv und beugt Abstürzen vor. Mit nur drei Betreuungsstunden in der Woche könnte Raphaels Scheitern mit hoher Wahrscheinlichkeit verhindert werden. Das kostet wenige hundert Euro. Es wird uns allen aber ein Vielfaches kosten, wenn der Bursche kurz vor dem Ziel einfach allein gelassen wird.


Martin Schenk, Psychologe, ist Sozialexperte der Diakonie mit den Schwerpunkten Soziale Sicherheit, Gesundheit, Kinder & Jugendhilfe, Mitbegründer der Armutskonferenz sowie Lehrbeauftragter für Soziale Arbeit am FH Campus Wien.


Tipp der [um]bruch:stelle:

Am Fr., 16. Februar 2024, findet in Wien eine Fachtagung statt, die sich mit genau diesen Themen auseinandersetzt. Details zur Tagung und der Anmeldung findest du unter https://eveeno.com/careday.


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Fußnoten

[1] Name geändert

[2] Die genaue Definition des Begriffs variiert in unterschiedlichen Studien, indem sie teilweise junge Menschen, die sich noch in stationärer Betreuung der KJH befinden, inkludiert bzw. exkludiert. Hier wird mit der Definition nach Sievers, Thomas und Zeller [5] gearbeitet, welche Care Leaver als „(..) junge Menschen bezeichnet, die sich in öffentlicher stationärer Erziehungshilfe (Wohngruppen, Erziehungsstellen, Pflegefamilien und anderen Betreuungsformen) befinden und deren Übergang in ein eigenständiges Leben unmittelbar bevorsteht (..) [oder die] diese Hilfesettings bereits verlassen haben und ohne Unterstützung der Kinder- und Jugendhilfe leben“ (ebd.: 9).

[3] Seit der Novelle zum Bundes-Verfassungsgesetz BGBl. I 14/2019 (In Kraft getreten mit 01.01.2020) liegt die Hauptverantwortung der Umsetzung der Kinder- und Jugendhilfe in der Zuständigkeit der Bundesländer.

 

 Bibliografie

  1. Antonovsky, Aaron. 1997. Salutogenese. Zur Entmystifizierung der Gesundheit. Tübingen.

  2. Nussbaum, Martha. 1998. Gerechtigkeit oder das gute Leben. Frankfurt am Main: Suhrkmap.

  3. Schenk, Martin, und Wölfl, Hedwig 2022. Was Kindern jetzt gut tut. Gesundheit fördern in einer Welt im Umbruch. Wien: Ampuls Verlag.

  4. Sen, Armatya. 2000. Ökonomie für den Menschen. Wege zu Gerechtigkeit und Solidarität in der Marktwirtschaft. München & Wien: Carl Hanser Verlag.

  5. Sievers, Britta; Thomas, Severine; Zeller, Maren. 2021. Jugendhilfe – und dann? Zur Gestaltung der Übergänge junger Erwachsener aus stationären Erziehungshilfen. Frankfurt am Main: IGfH-Eigenverlag.

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