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Digital Storytelling von Unten – Inhalte auf Social Media so vermitteln, dass sie unterschiedliche Zielgruppen der Sozialen Arbeit auch erreichen

  • Autorenbild: Fabian Reicher
    Fabian Reicher
  • 3. Nov.
  • 6 Min. Lesezeit

Ein Beitrag von Fabian Reicher, Jugendsozialarbeiter, Lehrender und Autor


Jugendarbeiter mit Handy in Workshop zu Digital Storytelling
Foto (c) suna.films

„Aber was interessiert es die Jugendlichen auf TikTok, was eine 50-jährige Frau sagt?“, fragte eine Kollegin einer Jugendberatungsstelle im Rahmen eines Workshops zur Methode „Digital Storytelling von Unten“. Unser Ziel? Die jugendliche Zielgruppe dort zu erreichen, wo sie ist – auf TikTok. Denn auch wenn die Einrichtung bereits Kanäle auf Facebook und Instagram hatte, die Jugendlichen waren nicht mehr dort. Und so ging es darum, gemeinsam mit den Teilnehmer:innen zu erarbeiten, wie man digitale Inhalte für TikTok strategisch und spannend gestalten kann. In der ersten Einheit beschäftigten wir uns mit Social Media, den Online-Lebenswelten von Jugendlichen und den damit verbundenen Gefahren und Chancen. Jetzt ging es darum, gemeinsam ein an die Institution angepasstes Social-Media-Konzept zu erstellen, um im nächsten Schritt eigene Formate zu entwickeln und auch umzusetzen. Die Motivation war da, ging aber mit großer Unsicherheit und auch einem gewissen Unbehagen einher, wie die Frage der Kollegin sehr gut zeigt. Was steckt dahinter?

 

Warum auf Social Media reaktionäre bis extremistische Akteur:innen dominieren

Als Social Media aufkam, wurde es von Medien, Politik, aber auch von progressiven Akteur:innen wie sozialarbeiterischen Institutionen zu Beginn mehrheitlich belächelt. Man empfand es als Spielplatz für Jugendliche, abgekapselt von der realen Welt. Mit der Meme-Kultur wusste man wenig anzufangen. Dazu kam die (berechtigte) Skepsis und Kritik an Social Media-Plattformen an sich, ihrem problematischen Umgang mit unseren Daten und der fehlenden Transparenz betreffend der Funktionsweisen ihrer Algorithmen. Abgesehen davon stecken hinter den Plattformen Unternehmen, die vor allem ein Ziel verfolgen: So viel Geld wie möglich zu erwirtschaften. Dieser Unwille, sich mit Social Media auseinanderzusetzen, sollte zu einem brutalen Boomerang werden. Reaktionäre und extremistische Akteur:innen erkannten das Internet schnell als einen „neuen Ort", an dem es kaum Einschränkungen in ihrem menschenverachtenden Tun gibt. Erstellt man einen neuen Account auf TikTok dauert es keine fünf Sekunden, bis man rechte Inhalte in den eigenen Feed gespült bekommt. Social Media überfluten mit Desinformation, Hate Speech, rassistischen und frauenfeindlichen Inhalten. Wir alle haben viel zu lange dabei zugesehen, wie reaktionäre bis extremistische Akteur:innen Posting für Posting, Video für Video die sozialen Medien und damit Stück für Stück nicht nur die digitale, sondern auch die analoge Welt übernahmen.

 

Der TikTok-Algorithmus: Chancen und Strategien für die Digitale Soziale Arbeit

Dem wollten die Kolleg:innen der Jugendberatungsstelle etwas entgegensetzen. Im Workshop ging es darum, eigene Formate zu entwickeln, die reaktionäre Dominanz auf TikTok zu brechen und den Jugendlichen damit alternative Inhalte in ihre digitalen Lebenswelten zu transportieren. Klar ist: Social Media ist ein schräges Spielfeld, das die Machtstrukturen unserer Welt nicht aufbricht, sondern fortsetzt. Aber wenn wir Social Media und seine Regeln verstehen, können wir diese Strukturen nutzen, um mit unseren Geschichten möglichst viele Menschen zu erreichen. Denn egal, wie wir zu Social Media stehen – es wird nicht mehr weggehen, und die Kids sind dort. Forderungen nach Verboten verpuffen und Altersbeschränkungen allein sind nicht wirksam. TikTok ist zwar offiziell erst ab 13 Jahren erlaubt, wird aber bereits von weit Jüngeren genutzt. Bis zu vier Stunden täglich verbringen Jugendliche auf Social Media. Das Smartphone wurde zum ständigen Begleiter.

 

Trotz unterschiedlicher Sichtweisen war uns im Workshop allen klar: Sozialarbeiter:innen müssen in diesen digitalen Räumen präsent sein, denn für Jugendliche gibt es keine getrennten Online- und Offline-Lebenswelten. Unsere Social-Media-Seite wird zur digitalen Visitenkarte, über die wir Jugendlichen unsere Angebote näherbringen. Denn was reaktionäre und extremistische Akteur:innen längst erkannt haben: Besonders Themen, die in konventionellen Medien untergehen, haben auf Social Media großes Potenzial und ein Publikum, das diese Themen hören möchte. Gerade TikTok bietet durch seinen Algorithmus eine große Chance: Auch Videos von kleinen Accounts werden bevorzugt, wenn sie eine hohe Watchtime haben. Dadurch können Einrichtungen mit wenig Budget und begrenzten Ressourcen ihre Zielgruppen mit einfachen Mitteln und eigenen Inhalten erreichen. Für die Kolleg:innen von der Jugendberatungstelle bietet das eine große Chance.

 

Digital Storytelling von Unten: Jugendliche dort erreichen, wo sie sind

Und darum ging es im Workshop: Mit der Methode des „Digital Storytellings von Unten“ können wir wichtige Inhalte und Informationen direkt und niederschwellig an die jeweilige Zielgruppe transportieren und gleichzeitig auf das eigene Beratungs- und Betreuungsangebot aufmerksam machen. Gerade bei schwierigen Themen wie Gewalt, Mobbing, Sexualität oder Grooming[i], die oft im Elternhaus tabuisiert und in der Schule schwer zu vermitteln sind, können Informationen direkt an Betroffene vermittelt und Hilfestellungen und Handlungsmöglichkeiten angeboten werden. Wohin kann ich gehen, wenn ich Gewalt erlebe? Was sind Anzeichen für Suizid bei Freund:innen? Plattformen wie TikTok eigenen sich sehr gut, um wichtige Informationen für Jugendliche bereitzustellen, die aus unterschiedlichen Gründen von Offline-Angeboten schwer erreicht werden können.

 

Ein Beispiel für ein solches Angebot ist das Format der Erklärvideos. Erklärvideos sind kurze, visuell ansprechende Videos, die komplexe Themen einfach und verständlich erklären. Sie werden oft in Bildungskontexten eingesetzt und sind vor allem für Beratungsstellen ein wesentliches Tool. Und daran arbeiteten wir gerade im Workshop. Um auf die Frage der Kollegin zurückzukommen: Was interessiert es Jugendliche, was eine 50-jährige Person sagt? Nun, gerade auf TikTok geht es nicht nur darum, wer es sagt, sondern vor allem darum, was und in welcher Form gesagt wird. Es empfiehlt sich daher, bei Erklärvideos den Inhalt so niederschwellig, sprich altersadäquat und lebensweltnah wie möglich herunterzubrechen, möglichst frei zu sprechen und das Video mit einer sogenannten „Hook“ einzuleiten. Diese soll Spannung erzeugen und den Zuseher:innen vermitteln, was sie im Video erwartet. Mit einem Call-to-Action gegen Ende des Videos kann dann noch auf passende Online- und Offline Angebot der eigenen oder anderer Organisation hingewiesen werden.

 

Was es für das "Digital Storytelling von Unten" neben dem richtigen Handwerkzeug vor allem braucht, ist Mut. Und der machte sich auch im Fall der Kollegin bezahlt. Das von ihr produzierte Video „Anzeichen von Suizid bei Freund:innen“ ging auf TikTok viral, erreichte über 150.000 Menschen und wurde von über 4.000 Personen gespeichert. Damit stehen für diese 4.000 Personen die Informationen aus dem Video im Notfall jederzeit auf dem Handy zur Verfügung.

 

Die Kritik an Social Media ist berechtigt. Es ist ein schräges Spielfeld, das die Machtstrukturen unserer Welt nicht aufbricht, sondern fortsetzt. Aber ob wir wollen oder nicht: Die Zielgruppen Sozialer Arbeit, vor allem Jugendliche, sind dort. Fehlen soziale Angebote, überlassen wir das digitale Feld reaktionären oder extremistischen Gruppen.

 

Und genau darum geht es im Workshop: Wenn wir Social Media und seine Regeln verstehen, können wir ihre Logik nutzen, um mit unseren Geschichten möglichst viele Menschen zu erreichen. Geschichten, die Mut machen, empowern und alternative Perspektiven zu den dominierenden anbieten.


Buch-Cover von Die Alternative Held:innenreise
Cover-Design [c] Tayibbe Bübül

Das Buch: Die Alternative Held:innenreise. Digital Storytelling von Unten

Bis zu vier Stunden täglich verbringen Jugendliche auf Social Media, das Smartphone wurde zum ständigen Begleiter. Die alternative Held:innenreise nimmt uns mit in diese Online-Lebenswelten und beschreibt die Gefahren, denen Jugendliche dort ausgesetzt sind: Von der Manosphäre, über sogenannte TikTok-Preacher bis hin zu rechtsextremen Codes und Propaganda-Strategien.

Auf Social Media setzen sich die Machtstrukturen unserer Welt fort. Daher ist es wichtig, die Spielregeln zu verstehen, um auch im digitalen Raum wirksam zu werden. Die Autor:innen verbinden Theorie und Praxis und beantworten im zweiten Teil des Buchs eine zentrale Frage: Wie kann man eigene Geschichten so erzählen, dass sie auch gehört werden? Anhand konkreter Projekte aus ihrer Arbeit führen sie in das Handwerk des digitalen Erzählens ein. So entsteht ein Werkzeugbuch für alle, die ihre eigenen Geschichten hörbar machen und damit zu einer solidarischeren, vielfältigeren Gesellschaft beitragen wollen.

 

Der Workshop: Die Methode „Digital Storytelling von Unten“

Was ist wichtig, um auf Social Media Geschichten so zu erzählen, dass sie auch gehört werden? Wie funktionieren unterschiedliche Kurzvideoformate? Vom Skript zum Dreh zum viralen Video: Im Workshop erarbeiten wir gemeinsam, wie wir partizipativ mit und für unsere Zielgruppe Kampagnen gestalten und umsetzen. Je nach individuellem Bedarf ist dieses Angebot eine Mischung aus Workshop, Begleitung oder Coaching. Wir begleiten vom fertigen Kampagnenplan bis zur Produktion und der Umsetzung der Kampagnen

 

 


Fabian Reicher Autorenfoto
Foto (c) suna.films

Fabian Reicher ist Jugendsozialarbeiter, Lehrender, Autor und Mitbegründer zahlreicher digitaler Projekte wie #CopUndChe, Jamal al-Khatib – Mein Weg, #WirAlleSindWien. Letzte Publikationen: "Die Wütenden. Warum wir im Umgang mit dschihadistischem Terror radikal umdenken müssen" und „Die Alternative Held:innenreise. Digital Storytelling von Unten“.

 



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[i] "Grooming (engl. = anbahnen, vorbereiten) bedeutet, eine sexuelle Grenzüberschreitung oder einen sexuellen Kindesmissbrauch geplant vorzubereiten. Dieses geplante Vorgehen umfasst in der Regel folgende Aspekte: Vertrauen des Kindes gewinnen, es bevorzugen, isolieren, zum Schweigen und Geheimhalten bringen und gefügig machen, indem nach und nach die Grenzen des Opfers überschritten werden." (https://www.aufarbeitungskommission.de/service-presse/service/glossar/grooming/)

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