
Am 21. Februar 2025 findet der diesjährige International Care Day statt[i] – ein Tag, an dem besondere Aufmerksamkeit auf junge Menschen in bzw. nach der stationären Unterbringung durch die Kinder- und Jugendhilfe gelegt wird. Mit welchen besonderen Herausforderungen und Benachteiligungen sie zu kämpfen haben, kannst du in unserem BLOG vom Februar 2024 nachlesen.
Wir haben uns deshalb mit Rebecca Blattner, 26jährige Care Leaver[ii] aus Vorarlberg, zum Interview getroffen. Sie ist eine der Gründungsmitglieder und Vereinsvorsitzenden des Selbstvertretungsvereins Care Leaver Österreich. Im Gespräch erzählt sie uns, warum es diesen Verein in Österreich braucht, was die besonderen Herausforderungen aber auch Highlights im gemeinsamen Engagement von und für Care Leavers ist – und wie auch du Mitglied und Unterstützer:in dieses Engagements werden kannst.
Die Geschichte des Selbstvertretungsvereins beginnt mit dem EU-Projekt CareLeaving Dialog. Motiviert durch die Vernetzung von Care Leavers aus ganz Österreich, gründete sich der Verein erstmals im Herbst 2019. Rebecca war schon damals mit dabei. Beeinflusst durch die Corona-Krise und persönliche Herausforderungen im Vorstand, wurde es 2021/22 still um den Verein. Rebecca engagierte sich auch in dieser Zeit weiter, war aber bald am Ende ihrer Ressourcen angekommen. 2023 konnte der Verein mithilfe einzelner Mitglieder der Plattform Jugendhilfe 18+ neuen Schwung aufnehmen. Insbesondere Stephan Sting und sein Team vom Institut für Erziehungswissenschaft und Bildungsforschung der Universität Klagenfurt, welches seit einigen Jahren zu den Lebensrealitäten von Care Leavers forscht, war dabei instrumental, wie Rebecca im Interview betont. Aufgrund seines Engagements, der engen Zusammenarbeit mit der Universität, der Anlaufstelle für Care Leaver in Klagenfurt sowie der Ortsansässigkeit eines der Vorstandsmitglieder, Alexandra Weiß, wurde der Verein 2023 in Klagenfurt neu gegründet – wo auch die Fachtagung zum diesjährigen Care Day stattfindet.
Ihr habt euch 2023 als Verein Care Leaver Österreich neu gegründet. Wie seid ihr aktuell aufgebaut?
Wir haben uns entschieden, dass wir keine Hierarchien haben möchten. Mittlerweile sind wir fünf Leute im Leitungsteam und bei uns ist es wirklich so: Jeder ist Obmann, jede ist Obfrau. Wir sind ein Team und das ist einfach wichtig und ich glaub das ist auch das, was uns stärkt.
Bei der Fachtagung zum International Care Day 2024 war dann so quasi unser Startschuss als neu gegründeter Verein – weil danach sind die Anfragen nur noch so reingekommen! Und jetzt sind wir eh durchgehend dran, aber es ist schon immer noch sehr viel nebenbei, weil jeder von uns studiert oder arbeitet oder beides. Das ist schon viel, aber lässt sich machen (lacht).
Was war für dich die Motivation, beim Verein aktiv zu werden?
Ich bin schon eher ein positives Beispiel was den Übergang und generell das Angebot in der Betreuung angeht – und trotzdem habe ich auch meine negativen Erfahrungen gemacht. Und dann hat es halt angefangen mit dem CareLeaver Dialog, dass man sich da mal einbringen konnte. Und wie ich dann dort war, hab‘ ich gemerkt: OK, österreichweit ist das ja teilweise extrem was die Jugendlichen da miterleben, wenn sie eigentlich in einem geschützten Umfeld sein sollten. Das war auch der Moment wo ich beschlossen hab im Verein mitzumachen.
Was sind aktuell die größten Herausforderungen für den Verein und was würde euch am meisten helfen, diese zu meistern?
Aktuell sind wir über Spenden finanziert. Wir sind aber auch dran, dass wir etwas auf Bundes- oder Landesebene vereinbaren können, um unser großes Ziel, eine Stelle finanziert zu bekommen, zu erreichen. Also ideal wären natürlich mehrere Stellen, aber ein großartiger Start und eine große Entlastung wäre es, wenn zum Beispiel Alexandra eine 100%-Stelle im Verein bekommen könnte. Das würde eine große Entlastung bedeuten. Derzeit müssen wir unser Engagement mit Studium und Arbeit vereinbaren, um unseren Lebensunterhalt zu sichern. Eine feste Anstellung im Verein würde eine stärkere Fokussierung ermöglichen und den Verein so langfristig stärken.
Was sind die Kernaufgaben und -ziele, die den Verein ausmachen?
Es ist halt wirklich ein Verein von Betroffenen für Betroffene, und das ist, glaub ich, auch etwas, das uns sehr einzigartig macht. Und unsere Hauptziele sind natürlich klar: Wir möchten uns für bessere Bedingungen einsetzen – sowohl im Übergang ins Erwachsenenleben als auch schon während der Fremdunterbringung.
Für mich fangen einfach die Probleme schon so viel früher an als mit dem Auszug. Zum Beispiel schon bei der Schule bzw. Ausbildung oder Lehrstellenauswahl. Weil, es ist ja so: Wir können uns nicht umentscheiden! Wir müssen dann dabei bleiben. Wo ich gewohnt habe, sind Jugendliche rausgeschmissen worden, weil sie die Lehre abgebrochen haben. Es ist halt einfach so: die Problemfälle werden aussortiert. Und ich glaube einfach das viele Leute sich anders entscheiden würden, wenn sie nicht so einen Druck vom System hätten, möglichst früh für sich selbst sorgen zu müssen.
Warum braucht es euren Verein und was sind eure zentralen Anliegen/Forderungen an Politik und/oder die Kinder- und Jugendhilfe in Österreich?
Bei uns/in Österreich werden wir eher als Belastung gesehen, wir Care Leaver und Kinder und Jugendliche in der Kinder- und Jugendhilfe. Im Endeffekt sind wir es unserem Land halt einfach nicht wert. Ich muss mir selbst auch immer wieder in den Kopf rufen: „Hey, das steht dir eigentlich zu!“.
Wir haben im Rahmen des CareLeaving Dialog neun Forderungen erstellt, die wir letztes Jahr im Sommer mit einigen Care Leavern weiter überarbeitet haben. Im Kern geht es uns um…
die Verlängerung der Betreuung durch die Kinder- und Jugendhilfe bis zum 26. Lebensjahr.
ein Recht auf Wiedereinstieg in Jugendhilfe-Maßnahmen, um nach Rückschlägen auch wieder zurückkommen zu können.
eine verlässliche finanzielle Unterstützung u.a. für die Erstausstattung der Wohnung oder für Ausbildungen.
Unterstützung bei individuellen Ausbildungs- und Berufswegen, und das Umwege oder Verzögerungen im Bildungsweg sich nicht auf die Betreuung auswirken.
ein Recht auf Gesundheit & Versicherung, weil junge erwachsene Care Leaver oft nicht versichert sind, weil das über die Eltern eben nicht möglich ist.
ein Recht auf Wohnungsförderungen, weil sich Care Leaver oft keine Kaution, Ersteinrichtung oder einen Umzug leisten können.
Mitspracherecht, z.B. bei der Wahl der Bezugspersonen, insbesondere was die Nachbetreuung angeht, weil das eben viel mit Vertrauen zu tun hat.
mehr Information & Beratung, denn Care Leaver wissen oft nicht, wo sie Hilfe bekommen können, sei es zu Alltagsfragen oder bei Krisen.
Soziale Netzwerke & gratis oder zumindest günstige Kultur- und Freizeitangebote: Es würde schon helfen, wenn z.B. von Bundesländern Locations angeboten würden, um Büros oder Anlaufstellen einzurichten. Einfach, dass es auch Unterstützung von Bundes- oder Landesseite gibt, denn es wird oft vergessen und vor allem unterschätzt, wie hoch die langfristigen Kosten für Österreich sein können, wenn Care Leaver in jungen Jahren nicht die notwendige Unterstützung erhalten.
Braucht ihr noch Verstärkung an aktiv mitarbeitenden Mitgliedern im Verein?
Das Kernteam sind aktuell 19 Leute, inklusive Leitungsteam, die aktiv mitarbeiten. Und mehr Leute brauchen wir immer! (lacht) Wir teilen in unserer WhatsApp-Gruppe regelmäßig Veranstaltungen, bei denen wir Unterstützung benötigen – wie zum Beispiel bei der Weihnachtsfeier oder unserem Weihnachtsmarkt-Stand letztes Jahr. Bevor es los geht, halten wir Sitzungen mit dem Kernteam ab, um gemeinsam zu besprechen, was wir planen wollen, wie wir es umsetzen können und wer welche Aufgaben übernehmen kann. Die Mitarbeit ist natürlich freiwillig, aber wer Teil des Kernteams ist, hat sich bewusst dazu entschieden, aktiv mitzugestalten. Wir freuen uns daher, wenn man sich einbringt und wir gemeinsam an Projekten arbeiten. Alternativ gibt es auch die Möglichkeit als „normales“ Mitglied dabei zu sein. Sie werden über alle Aktionen informiert und können jederzeit daran teilnehmen.
Wer kann Mitglied bei euch werden und wie funktioniert das?
Also wir definieren den Begriff ‚Care Leaver‘ für unseren Verein sehr breit. Wir zählen da auch Leute dazu, die einfach eine schwierige Familienbiografie haben, aber vielleicht nie am Schirm der Kinder- und Jugendhilfe gelandet sind. Die gehören für uns auch dazu. Und auch wenn man selbst gar keinen biografischen Bezug zu dem Thema hat, sich aber interessiert und unterstützen will, kann man bei uns Mitglied werden. Einfach via WhatsApp oder Instagram oder eine E-Mail schreiben, und dann wird man in unsere WhatsApp-Gruppen aufgenommen.
Vor Kurzem habt ihr den Kärntner Menschenrechtspreis gewonnen. Herzliche Gratulation! Was sind andere bisherige Highlights von eurer Vereinsaktivität?
Der Menschenrechtspreis war für uns etwas ganz Besonderes – wir sind unglaublich dankbar für die Anerkennung und die 10.000 Euro Preisgeld. Natürlich gibt es noch viele Ideen und Vorhaben, für die wir zusätzliche Mittel benötigen, aber der Preis war ein riesiger Schritt nach vorne, auf dem wir weiter aufbauen können.
Ein weiteres Highlight war definitiv der Care Day 2024. Der hat uns nicht nur viel Sichtbarkeit gegeben, sondern auch gezeigt, wie wichtig unsere Stimme ist. Eigentlich ist jedes Interview, das wir führen, ein weiterer Schritt in die richtige Richtung. Wir wurden auch zu Werkstattgesprächen an die Uni Salzburg und nach Wien eingeladen, um uns mit Fachleuten auszutauschen. Das bedeutet uns extrem viel, weil als Care Leaver bist du das gar nicht gewohnt, dass die Leute auf dich hören. Diese Einladungen sind für uns ein Zeichen von Wertschätzung. Viele Fachleute, die uns heute aktiv einbeziehen, geben selbst zu, dass sie noch vor 10 Jahren nicht daran gedacht hätten, uns mit an den Tisch zu holen. Jetzt sagen sie, dass sie froh darüber sind, unser Wissen und unsere Erfahrungen nutzen zu können. Für uns ist genau das ein riesiger Erfolg: Zu wissen, dass wir mit unserer Arbeit etwas bewegen und ernst genommen werden.
Im Sommer hatten wir unser erstes Netzwerktreffen, wo wir Care Leaver aus ganz Österreich für ein Wochenende an einen See in Kärnten eingeladen haben. Da haben wir mithilfe von Spenden und Sponsoren alles bezahlt, und für manche war das wirklich die einzige Möglichkeit in dem Jahr einen Urlaub zu machen. Da sind so 30 Leute zusammengekommen – das war schon sehr toll! Zu Weihnachten haben wir auch wieder eingeladen, den 24.12. mit uns in Klagenfurt zu verbringen. Das waren eigentlich eh schon viele Highlights bis jetzt, wenn ich so darüber nachdenke. (lacht)
Was ist in naher Zukunft für den Verein geplant?
Das nächste Große wird sicher der nächste Care Day am 21. Februar sein, und das Responsive Projekt mit der Universität Innsbruck. Da sind wir Partner und haben ein Konzept bezüglich Partizipation in der Kinder- und Jugendhilfe ausgearbeitet, über das die Universität Innsbruck grad noch mal drüber schaut. Die Forschung ist abgeschlossen und jetzt geht es in der Umsetzungsphase darum, dass wir in Einrichtungen fahren und Gespräche mit den Fachkräften und auch den Kindern und Jugendlichen führen – und das ist alles über das Projekt finanziert. Das ist schon super und abgesehen vom hoffentlich nachhaltigen Mehrwert des Projekts hilft es uns auch gleichzeitig dabei, bekannter zu werden. Denn jetzt ist erstmal das große Ziel, Aufmerksamkeit auf uns zu lenken, weil viele Care Leaver wissen noch gar nicht, dass es uns gibt.
Im März sind wir bei der Veranstaltungsreihe „Transition – Plötzlich erwachsen“ in Wien eingeladen. Und ich denke es werden sicher auch laufend weitere fachliche Termine reintrudeln. Im Sommer wollen wir natürlich auch wieder ein Netzwerktreffen machen. Auch Spenden- und Förderansuchen werden viel Zeit in Anspruch nehmen. Nur so können wir langfristig eine stabile und sichere Finanzierung aufbauen.
Was wünschst du dir für die Zukunft des Vereins bzw. für Care Leaver in Österreich?
Ein großer Traum von uns ist es, je nach Bedarf, in jedem Bundesland ein eigenes Büro zu haben, in das Care Leaver kommen können, wenn sie Unterstützung brauchen. Das wäre für uns eine unglaublich wertvolle Entwicklung. Aber wie so oft hängt auch dieser Traum von der richtigen Finanzierung ab.
Möchtest du abschließend den Leser:innen dieses Blogs noch etwas mitgeben?
Care Leaver stehen oft am Abgrund, nicht weil sie gescheitert sind, sondern weil das System sie im Stich lässt. Es sind nicht fehlende Fähigkeiten, die sie scheitern lassen – es sind fehlende Möglichkeiten.
Hinter jedem Care Leaver steht eine Geschichte voller Brüche – aber auch voller Hoffnung. Wenn es uns als Gesellschaft nicht gelingt, sie aufzufangen, werden wir unserer Verantwortung nicht gerecht. Wir/Sie brauchen kein Mitleid, sondern Mut zu echten Veränderungen und Perspektiven. Denn es geht nicht nur ums Überleben – es geht um ein Leben in Würde, Sicherheit und Hoffnung. Dafür kämpfen wir, denn jeder Mensch zählt.
Wir bedanken uns bei Rebecca für das Interview und möchten noch auf folgende Websites verweisen:
Verein-, Spenden- & Kontakt-Infos zum Verein Care Leaver Österreich unter https://www.careleaver.at/careleaver-verein.
Mehr Hintergrundinformation zu Care Leavers/Leaving Care in Österreich findest du in unserem BLOG-Artikel vom Februar 2024.
Information zu den bisherigen Fachtagungen zum International Care Day in Österreich: Care Day 2020 (Wien), Care Day 2024 (Wien), und Care Day 2025 (Klagenfurt).
Details zum Responsive Projekt.

Doris Moravec leitete über sechs Jahre ein Mentoring-Projekt für Jugendliche, die in der stationären Betreuung der Wiener Kinder- und Jugendhilfe aufwachsen. Später war sie auch in der Beratung von Care Leavers tätig und verfasste ihre Masterarbeit über diese Zielgruppe. Bei der [um]bruch:stelle übernimmt sie die Funktion der Obfrau-Stellvertreterin und ist Co-Redakteurin und Autorin für den [um]bruch:BLOG.
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[i] Der International Care Day wurde 2016 in Schottland etabliert, um der Zielgruppe Care Leaver und ihren besonderen Herausforderungen mehr Aufmerksamkeit zu schenken (vgl. Who Cares? Scotland 2023). 2020 fand erstmals in Österreich eine Fachtagung mit diesem Fokus statt. Seitdem wird dieser Tag jährlich auch in Österreich dafür genutzt, politischen Forderungen mehr Nachdruck zu verleihen.
[ii] Als Care Leaver werden junge Menschen bezeichnet, die ihre Kindheit zumindest teilweise in der stationären Kinder- und Jugendhilfe („care“) verbracht haben, und entweder kurz vor oder nach dem Verlassen („to leave“) dieser stehen (vgl. Sievers et al. 2021: 9). Da es im deutschen Sprachraum keine Alternative zum englischen Begriff Care Leaver gibt, hat sich die [um]bruch:stelle entschieden, den Begriff im englischen Original, im Singular und Plural, ohne deutscher gendergerechter Endung zu verwenden.